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Der Stern erklärt Extinktionslernen im Gespräch mit Onur Güntürkün (A01)

Wir freuen uns sehr, Euch den tollen Presseartikel im aktuellen Stern-Magazin mit unserem SFB 1280-Sprecher Onur Güntürkün präsentieren zu dürfen, in dem er über das Vergessen spricht.

Zum Artikel: Wenn wir Erinnerungen wach rufen, sind sie in GefahrDownload Stern-Artikel 04.07.2019

Der Biopsychologe Onur Güntürkün erklärt, warum unser Gehirn ständig Inhalte löscht und wie wir das Vergessen nutzen können, um Ängste und Schmerzen besser zu bewältigen.

Zur Person

0nur Güntürkün, 60, wurde in lzmir geboren und kam als Kind mit seiner Familie nach Deutschland, um seine Polio-Erkrankung behandeln zu lassen. Der Psychologe interessiert sich vor allem für die neurobiologischen Grundlagen von Verhalten. Er forschte in Paris, San Diego und lzmir, ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften, Leibniz-Preisträger und leitet das Institut für Kognitive Neurowissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2017 ist er zudem Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Extinktions-Lernen“, wo es um Verlernen und Umlernen geht.

Herr Güntürkün, haben Sie heute eigentlich schon etwas vergessen?

Ja natürlich, leider sehr viel. Ich könnte Ihnen zum Beispiel nicht mehr spontan sagen, woran ich heute so zwischen neun und zehn Uhr gearbeitet habe, ohne es anhand vieler anderer Details zu rekonstruieren. Ich erinnere mich auch, dass meine Frau heute Morgen eine Jeans trug, und wenn ich Ihnen das so erzähle, fällt mir ein, dass es gestern ein Rock war. Aber – das darf ich meiner Frau niemals sagen – ich habe vergessen, wie der Rock aussah. Das mag unhöflich erscheinen, aber ehrlich gesagt müssen wir froh sein, dass wir vergessen können.

Warum sollten wir für unser miserables Gedächtnis auch noch dankbar sein?

Weil die Anzahl von Informationen, die jede Sekunde auf uns einströmen, jenseits von allem ist, was unser Gehirn verarbeiten kann. Das meiste von dem, was wir sehen, hören, fühlen, rauscht durch unser Gehirn, ohne eine Spur zu hinterlassen. Es wird sofort weggefiltert. Wir können diese Tatsache Vergessen nennen, aber eigentlich wurden die Informationen nie tief weiterverarbeitet. Das, was wir Erinnerung nennen, ist das Ergebnis vieler Filterprozesse und geht dann in die üblichen Abnutzungserscheinungen hinein.

Die meisten Menschen ärgert es wahnsinnig, wenn sie eine Melodie im Kopf haben und sich nicht an den Songtitel erinnern können, wenn sie einen Bekannten treffen, aber ihnen der Name einfach nicht mehr einfällt. Würden Sie denen sagen: ,,Entspannt euch, alles kein Problem?“

Nein, Vergessen kann natürlich eine unglaublich lästige Sache sein. Früher konnte ich zum Beispiel Vorträge hören und noch nach zehn Jahren die Inhalte relativ gut nachvollziehen. Heute muss ich ein Notizheft bei mir haben und mitschreiben, sonst ist das neue Wissen schnell verschwunden. Das ärgert mich. Es ist, wie eine Brille zu tragen, so unpraktisch. Und dann kommt noch etwas ganz anderes hinzu: Wer hätte nicht Angst davor, dement zu werden? Es ist eine der Urängste des modernen Menschen. Sich an nichts erinnern zu können ist ein schrecklicher Zustand.

Wenn wir über das Gedächtnis reden, benutzen wir häufig Metaphern wie Festplatte, Archiv, Bibliothek. Dahinter steckt die Vorstellung, das Gedächtnis sei ein Ort, an dem man etwas für immer ablegen kann, und Erinnern bedeutet, den Weg zu diesem Ort zu finden. Sind diese Bilder überholt?

Sie sind insofern verfehlt, als dass sie Unveränderbarkeit und Stabilität suggerieren. Das ist falsch. Das Gehirn ist kein Computer, sondern ein lebendiges Organ und ständigen Veränderungsprozessen unterworfen. Jedes Mal, wenn wir eine Erinnerung wachrufen, ist sie in Gefahr. Denn in dem Moment, in dem wir sie aktivieren, ist sie flexibel. Plastisch. Formbar. Und wir sind bereit, sie zu verändern. De facto sogar zu löschen. Das Vergessen ist insofern ein fast mächtigerer Prozess als das Lernen, und deshalb finde ich ihn auch so spannend. Er macht uns Angst, wenn er krankhaft wird, gleichzeitig wird seine Nützlichkeit häufig überhaupt nicht beachtet.

Wenn im Gehirn alles ständig in Bewegung ist, wie fassen wir dann überhaupt einen klaren Gedanken?

Unter anderem, indem wir bestimmte Gedächtnisinhalte löschen. Das ist wichtig, um sogenannte prinzipielle beziehungsweise kategorische Erinnerungen aufzubauen. Wenn Sie beispielsweise an Ihre Mutter denken, an den ersten Freund oder die erste Freundin oder auch an Ihr Wohnzimmer, dann bilden Sie prinzipielle Erinnerungen, Kategorien. Sie speichern nicht die winzigen täglichen Variationen im Gesicht Ihrer Mutter ab, auch nicht das Licht, das jeden Tag anders in Ihr Wohnzimmer fällt, oder den Sessel, der nie exakt am gleichen Platz steht – all das wird nicht in Ihrer Erinnerung bleiben, sondern die prinzipielle Erinnerung wird permanent upgedatet. Ohne Kategorien zu bilden, würden wir in einer Flut von Deja-vus ertrinken. Wir würden ständig am Tag unser Sofa im Wohnzimmer sehen und würden jedes Mal sagen, ah, dieses Sofa habe ich schon einmal gesehen.

Können wir umgekehrt unseren Erinnerungen auch Details hinzufügen, die nie wirklich passiert sind?

Im Alltag geschieht das häufig. Denken Sie nur an die Art, wie alte Menschen über ihre Kindheit sprechen. Die Anzahl großartiger Kindheiten ist, wenn man ihnen Glauben schenkt, inflationär. Die waren in ihrer Erinnerung immer klüger und fleißiger als die heute Jungen und haben schon immer alles gewusst. Irgendwie kann da etwas nicht stimmen. Wir reichern Erinnerungen mit unserem heutigen Wissen an. Das geschieht ohne bösen Willen.

Wir sind also Meister der Selbsttäuschung?

Wir besitzen nur interpretierte Erinnerungen an unser Leben und sind bereit, uns manche Dinge schönzureden. Erinnern Sie sich zum Beispiel noch, was Sie Mitte der 80er Jahre über die DDR und die Mauer dachten?

Ich dachte, die deutsche Teilung ist Normalität und wird immer bestehen.

So ging es der großen Mehrheit der Deutschen. Sie haben die Teilung und die Mauer als etwas wahrgenommen, das in Ihrem Leben keine Veränderungen erfahren wird. Die meisten dachten: Ich werde sterben, aber die Mauer wird noch da sein. Dieses Wissen um die Mauer ist in verschiedenen neuronalen Schaltkreisen codiert, der Stacheldraht, die Wachtürme, die Gefühle, die wir mit alldem verbinden. Wenn Sie sich heute an die Mauer erinnern, sind diese alten neuronalen Verbindungen wieder flexibel. Zeitgleich ist ein anderes Netzwerk von Neuronen aktiv, dasjenige, in dem Sie Ihr neues Wissen abgespeichert haben – die Mauer ist weg. Beide Schaltkreise sind gleichzeitig aktiv. Dann kann sich eine synaptische Verbindung zwischen ihnen etablieren. Sie denken, dass die Mauer doch verschwunden ist und Sie sich an ihr Verschwinden erinnern. Die Kombination aus jetzigem und altem Wissen ist zeitgleich aktiv und bildet eine neue Gedächtnisspur, die die alte Spur ergänzt beziehungsweise ersetzt. Somit wird die alte Erinnerung wieder abgespeichert, und zwar so, dass sie ein bisschen um diese neue erweitert wird. Und in fünf Jahren gehören Sie zu den Menschen in Deutschland, die sagen: ,,Ich hab’s schon damals gewusst: Die Mauer hält nicht ewig. Damals schon hab ich’s meinem Freund Cem gesagt, und der hat mich für verrückt erklärt.“

Wenn unser Gehirn so anfällig für Einflüsterungen und Manipulationen ist, kann man da überhaupt falsche von richtigen Erinnerungen unterscheiden?

Ja, im Prinzip schon. Wir müssen aber ein Bewusstsein dafür schaffen, wie fragil Erinnerungen sind. Wenn wir diese Mechanismen des Erinnerns und Vergessens besser verstehen, sind wir auch weniger gefährdet. Wir wissen, dass man Menschen falsche Erinnerungen einreden kann, etwa an Straftaten. Diese Taten sind dann im Gehirn, sie werden repräsentiert durch Neuronen. Das Katastrophale an solchen „false memories“ ist, dass unschuldige Menschen ins Gefängnis kommen können, weil Zeugen Dinge berichten, die nie passiert sind. Ohne dass die Zeugen willentlich lügen.

Andererseits wird Opfern schnell unterstellt, dass sie sich eine Tat nur einbilden und fantasieren. Gibt es da einen Ausweg?

Die Polizeiarbeit ist seit den großen Debatten um „false memories“ besser geworden. Man kann das Problem nicht aus der Welt schaffen, aber es verkleinern.

Wenn unser Gehirn so gut ist im Vergessen, können wir das nutzen, um etwa Ängste oder quälende Gedanken gezielt auszulöschen?

In der klinischen Psychologie wird das getan. Nehmen wir einmal an, Sie sind auf dem Weg zur Arbeit überfallen worden, Sie sind mit dem Leben davongekommen, aber nun haben Sie Angst, dass Ihnen das wieder passiert. Sie versuchen die Erinnerung zu vermeiden. Sie nehmen einen anderen Weg. Aber Sie kommen an einer Ecke vorbei, die jener ähnelt, wo dieser Typ Sie überfallen hat. Irgendwann nehmen Sie gar keinen Weg mehr, Sie machen Homeoffice. Irgendwann haben Sie Angst, auf die Straße zu gehen. Irgendwann ist Ihr Leben nur noch dunkel. Wir müssen eine Möglichkeit finden, Ihre Erinnerung unter Kontrolle zu bringen.

Indem ich vergesse?

In der klassischen Konfrontationstherapie versucht man, Patienten dazu zu bringen, dass sie diesen Weg entlanglaufen, bis sie keine Angst mehr haben. Ihre Erwartung – hier werde ich überfallen – erweist sich immer wieder als falsch, und aufgrund dieser Erfahrung baut sich das Gehirn um. Die angsterzeugenden Neuronen werden gehemmt. Die Angst ist zwar noch irgendwo im Gehirn, aber sie ist entkoppelt, sie spüren sie nicht mehr.

Eine solche Therapie braucht in der Regel Zeit. Könnte es eines Tages eine Vergessenspille geben, die man einnimmt, und die Angst ist in einer Stunde verschwunden?

Medikamente allein bringen fast nichts. Ich glaube aber, dass die Kombination von Verhaltenstherapie und Psychopharmaka den Erfolg von Behandlungen künftig verbessern kann. Aber diese Psychopharmaka müssen sehr gezielt wirken. Der Therapeut kann bei dem Patienten bestimmte Erinnerungen wachrufen. Wenn er dann weiß, welche Neuronengruppen beteiligt sind und mit welchem pharmakologischen Wirkstoff er ihre Veränderbarkeit ansprechen kann, dann erhöht er die Chance, dass Psychotherapie besser und schneller wirkt.

Das klingt nach Science-Fiction. Und wäre es überhaupt wünschenswert? Wir würden anfangen, im Gehirn von Menschen herumzufummeln.

Wir könnten Millionen Menschen helfen. Unser Gehirn ist eine Gedankenmaschine, alles Denken basiert ja auf den Assoziationen, die wir im Laufe unseres Lebens erworben haben. Auch Ängste. Wenn wir diese Assoziationen sowohl neurobiologisch als auch psychologisch verstehen und aus dieser Kombination dann die Power für eine neue Art des Herangehens erwächst, macht mir das Hoffnung. Auch Schmerzpatienten könnte man so besser helfen. Es gibt ja auch die Angst vor Schmerzen.

Sie sind als Kind aus der Türkei nach Deutschland gekommen, damit Ihre Polio-Erkrankung mit neuen Methoden behandelt werden konnte. Was ist Ihre erste Erinnerung an Deutschland?

Ich weiß noch genau, welches die ersten Sätze waren, die ich auf Deutsch hörte. Als mein Vater meiner Schwester und mir sagte, dass wir nach Deutschland ziehen würden, fragte sie: ,,Aber wie soll das gehen, die reden ja gar kein Türkisch dort, wie klingt diese andere Sprache?“ Und mein Vater begann zu singen: ,,Die Gedanken sind frei“. Er hatte auf dem Gymnasium in Izmir Deutsch gelernt, und an dieses Volkslied konnte er sich noch erinnern. Das war wunderschön. Man kann eine Sprache nicht besser beginnen.

Würden Sie als Hirnforscher dem Dichter des Volksliedes recht geben? Sind die Gedanken wirklich frei?

Natürlich nicht. Aber wir Menschen sind auch nicht so unfrei, wie manche meiner neurowissenschaftlichen Kollegen meinen. Wir denken bei Freiheit immer entweder an ultimative Freiheit oder an komplette Sklaverei, bei der meine Gedanken vorherbestimmt sind. Weder das eine noch das andere trifft aus meiner Sicht zu. Ich kann gar nicht vollständig frei sein, weil mein Gehirn schon genetisch so verdrahtet ist, dass es bestimmte Wege des Denkens und Wollens gibt, die prototypisch sind für uns Menschen. Geschmäcker sind nicht frei. Mir ist angeboren, dass ich Zucker gut finde. Mir ist leider auch angeboren, dass ich Fett gut finde. Wenn wir ultimativ frei wären, gäbe es keinen Menschen mit Übergewicht. Es gäbe nicht das Problem des inneren Schweinehundes vor dem Sport. Das heißt, wir sind nicht komplett frei. Wir sind ein biologischer Körper, der ein hochintelligentes biologisches Organ namens Gehirn besitzt.

Wo bleibt da die Freiheit?

Unser Denken kann niemals vollständig vorherbestimmt sein, da Nervenzellen, die in ein aktives neuronales Netz eingebunden sind, nicht strikt deterministisch arbeiten. Zudem ist das Gehirn eine lernende Maschine. Sie fängt an zu lernen, noch bevor ich geboren wurde. Sie nimmt Verhaltensparameter aus der Umwelt auf, die dazu führen, dass Menschen Dinge tun, die biologischer Unsinn sind, wie zum Beispiel zölibatär zu leben. Wir müssen mit der schwierigen Situation auskommen, dass wir nicht frei sind, aber auch nicht unfrei. Dazwischen bewegen wir uns irgendwo. In diesem Graubereich spielt sich unser Leben ab.

Von Doris Schneyink

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